Ambulante Palliativversorgung- Wo stehen wir heute?

on 04 Januar 2015

Eine Bestandsaufnahme

Derzeit erlebt die öffentliche Debatte um Sterbehilfe in Deutschland eine Renaissance. Kann unsere Gesellschaft heute das Thema Sterbehilfe in der Öffentlichkeit eigentlich hinreichend und angemessen diskutieren? Besteht Gewissheit darüber, dass in unserer Gesellschaft für das Gebot der Humanität eine ausreichende patientenzentrierte und würdevolle palliativmedizinische und palliativpflegerische Versorgung bedarfsgerecht zur Verfügung steht? Besteht Verlässlichkeit insbesondere in Form einer ambulanten palliativ/hospizlichen Unterstützung und Versorgung für schwerstkranke und sterbende Menschen und ist der Zugang hier zuverlässig sichergestellt? Konnten inzwischen flächendeckende Angebote etabliert werden, sind diese bekannt und gewährleistet sowie niederschwellig verfügbar? Wurden bereits alle Anstrengungen zu einer Enttabuisierung von Sterben und Tod durch Re-Integration dieser Themen in unsere Gesellschaft unternommen und geleistet? Hat im heutigen Gesundheits- und Sozialwesen in Deutschland die Hospiz- und Palliativversorgung  den notwendigen und anerkannten Stellenwert neben den primären Zielen der Krankenbehandlung Prävention, Rehabilitation und Kuration?

Diese Fragen gilt es zunächst zu klären.

Der Würde beraubt und fremdbestimmt im Sterben behandelt und am Leben gehalten zu werden, ist eine der großen Ängste in unserer heutigen Gesellschaft. Diese Angst richtet sich sowohl auf eine unerwünschte technisch-medizinische Überversorgung in einem fortgeschrittenen Krankheitsverlauf als auch darauf, der Gesellschaft und insbesondere den Angehörigen zur Last zu fallen und bei zunehmender Ressourcenknappheit keine angemessene und kompetente Versorgung am Lebensende erwarten zu dürfen. Weit verbreitet ist im Besonderen auch die Angst, einsam und unter Schmerzen, Luftnot oder anderen Belastungen sterben zu müssen. Der Gedanke an das Sterben und den Tod weckt bei vielen Menschen Angst, hilf- und wehrlos zu sein, „wertlos“ und ausgeliefert zu sein, alltägliche Verrichtungen nicht mehr selbst und eigenverantwortlich vornehmen zu können, Angst vor Sinnlosigkeit und Angst vor gravierender Veränderung des eigenen Erscheinungs- und Selbstbildes. Solcherart Befürchtungen und Wahrnehmungen sind oftmals die Motivation für Forderungen nach einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe.

2005 votierte die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt für eine bessere Palliativversorgung in Deutschland:

"Die aktuelle Diskussion um aktive Sterbehilfe hat uns ins Bewusstsein gerufen, dass in der Mitte unserer Gesellschaft Menschen leben, die unsere besondere Solidarität benötigen: Schwerstkranke, die keine Aussicht mehr auf Heilung haben.

Ich lehne aktive Sterbehilfe strikt ab. Stattdessen müssen wir es Palliativpatientinnen und -patienten ermöglichen, würdevoll und ohne unnötige Leiden bis zum Tod betreut zu werden. Die Hospize und Palliativstationen der Krankenhäuser, die es heute bereits gibt, decken den vorhandenen Bedarf bei weitem nicht ab. Vor allem die Möglichkeiten der ambulanten Betreuung sind unzureichend. Aus diesem Grund möchte ich die Angebote ausbauen und für die Betroffenen einen eigenständigen Leistungsanspruch auf eine "spezialisierte ambulante Palliativversorgung" einführen. Pflegekräfte sowie Ärztinnen und Ärzte sollen abgestimmt zusammenarbeiten.

Diese Betreuungsteams, für die wir 250 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung stellen, haben die Aufgabe, Patienten mit erhöhtem Versorgungsbedarf zu Hause zu betreuen. Sie können aber auch in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizen tätig werden. Daneben muss die Palliativversorgung in den Krankenhäusern oder durch Hospize ausgebaut und verbessert werden. Eine gute und flächendeckende Palliativmedizin ist ein Gebot der Humanität, also der Wahrung des Menschlichen in der medizinischen Versorgung. Für die Betroffenen ist sie eine Chance, würdevoll Abschied nehmen zu können!"

( Sozialpolitischen Informationen des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales (BMGS) vom 21.11.2005;: Interview in Osnabrücker Zeitung  20.10.2005; Beitrag für den "Vorwärts".11.11.2005).

Die ambulante Palliativversorgung in Deutschland hat sich  sehr schleppend und heterogen entwickelt. Es bestehen große Unterschiede  u.a. in der Flächendeckung, in den strukturellen Gegebenheiten, in der personellen Ausstattung und der Qualifikation sowie in der Nomenklatur und der inhaltlichen Ausgestaltung.

Während sich offensichtlich in einigen Regionen die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) flächendeckend etabliert hat,  scheinen in anderen Regionen noch deutliche Defizite zu bestehen (siehe Abbildung 2 und 3).

Besonders im Bereich der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung (AAPV) besteht deutlicher Klärungs- und Handlungsbedarf. Seit dem 4. Quartal 2013 können Hausärzte ohne Qualifikationsanforderungen die palliativmedizinische Versorgung ihrer Patienten gesondert berechnen und in einigen Regionen bestehen gesonderte Verträge zur AAPV mit KV´en und teilweise auch qualifizierten ambulanten Pflegediensten. Damit ist derzeit jedoch nur in wenigen Regionen eine bedarfsgerecht gegliederte medizinisch-pflegerische allgemeine ambulante Palliativversorgung gewährleistet und keinesfalls flächendeckend vorhanden.

Dies trifft gleichermaßen für die palliative Basisversorgung (PBV) zu. Nach wie vor bleibt es dem Zufall überlassen, ob schwerstkranke und sterbende Männer, Frauen und Kinder frühzeitig Zugang zur Hospiz- und Palliativversorgung erhalten und ihre Rechte auf patientenzentrierte Behandlung belastender Symptome, Schmerzlinderung, Unterstützung, Begleitung und Edukation und das Recht auf Autonomie gewährleistet werden. Bedürfnisorientierte und an den Behandlungszielen des partizipativ eingebundenen Patienten orientierte Behandlung und Begleitung wird eher als Ausnahme erlebt.

Auch zu Begrifflichkeiten in der Hospiz- und Palliativversorgung bestehen Divergenzen. Allein im Verständnis zu „Palliative Basisversorgung (PBV)“, „Allgemeine Palliativversorgung (AAPV)“ und „Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV)“  besteht fragliche Einigkeit in der Nutzung,  z.B. zu folgenden Definitionen:

·         PBV- Alle im Gesundheitswesen tätigen Fachkräfte sollten mit den grundlegenden palliativmedizinischen und hospizlichen Prinzipien vertraut sein und diese angemessen in die Praxis umsetzen können.

·         AAPV- Einige im Gesundheitswesen tätige Fachkräfte haben, obwohl sie nicht ausschließlich im palliativmedizinischen Bereich arbeiten, zusätzliche Qualifikationen und Kenntnisse erworben und können diese in einer multiprofessionellen Struktur sektorenübergreifend, nutzbringend und adressatengerecht anwenden.

·         SAPV- Die Haupttätigkeit dieser im Gesundheitswesen tätigen Fachkräfte besteht in der Bereitstellung von ambulanter Palliativversorgung in interdisziplinären und multiprofessionellen Teams. Diese Organisationseinheiten betreuen Palliativpatienten mit komplexen und besonders aufwändigen Bedarfen und benötigen daher ein höheres Maß an spezialisierter Qualifizierung und an personellen wie auch weiteren anderen Ressourcen.

Diese bedürfnisgerecht ausgerichtete gedankliche Dreigliedrigkeit beinhaltet jedoch auch ein großes Spannungsfeld, einerseits im Hinblick auf die Zumutbarkeit des Palliativpatienten, von unterschiedlichen Fachkräften am Lebensende betreut zu werden und andererseits eines möglichen Rollenkonflikts von Fachkräften (z.B. „wenn die Regelversorgung nicht ausreicht“). Daher wäre zum Beispiel die Überführung der  dreigliedrige Versorgungsstruktur (BPV, AAPV, SAPV) in eine  zweistufige Versorgungsstruktur anzustreben (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1 Organisation der ambulanten Palliativversorgung

 Abbildung 2 Soll-Ist Vergleich Flächendeckung SAPV

 

Abbildung 3 Flächendeckung anhand Erstverordnung SAPV

 

Der Bedarf der Bevölkerung für eine flächendeckende Versorgung mit SAPV wurde zu Beginn der SAPV mit etwa 10% der sterbenden Bevölkerung eingeschätzt (etwa eine Promille der Gesamtbevölkerung). Inzwischen gehen Experten jedoch von einem weitaus höherem Bedarf von etwa 15-20% aller Sterbenden aus. Die derzeit extrem heterogene Umsetzung wird in aktuellen Daten der KBV klar dokumentiert.

Fazit:

Der Strukturaufbau von ambulanter Palliativversorgung durch SAPV zu einem flächendeckenden Angebot und deren bedarfsgerechte Sicherstellung für Betroffenen kann als noch nicht abgeschlossen bezeichnet werden. In vielen  Regionen Deutschlands besteht auch nach Einführung des Gesetzes zur SAPV seit 2007 und mit einigen Ergänzungen in der AAPV und BPV nach wie vor großer Entwicklungsbedarf.

Dem 2005 beschriebenen Anliegen der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt

„…mein Anliegen ist es, in dieser Legislaturperiode die palliativmedizinische Versorgung zu verbessern. Wir müssen es allen Menschen ermöglichen, ohne unnötige Leiden in Würde – und wo immer möglich und gewünscht – zu Hause bis zum Tod betreut zu werden. Heute gibt es zwar Hospize und Palliativstationen der Krankenhäuser, aber bei weitem nicht ausreichend. Vor allem die Möglichkeiten der ambulanten Betreuung sind unzureichend. Der Ausbau dieser Angebote ist die richtige Antwort auf die Forderungen nach aktiver Sterbehilfe, die wir strikt ablehnen.“ (Osnabrücker Zeitung vom 20.10.2005),

sind wir zwar ein gutes Stück entgegengekommen, decken jedoch sowohl gesellschaftspolitisch, sozialpolitisch und medizinisch-pflegerisch bei weitem nicht die Bedarfe humaner Versorgung und Unterstützung schwerkranker und sterbender Menschen. Dieser Beitrag ist jedoch für eine menschliche Gesellschaft unverzichtbar, um Sterben und Tod wieder als ein Teil des „Mensch Sein“ verstehen zu können sowie für  Respekt und  Akzeptanz gegenüber jedem einzelnen Menschen. Er ist auch unbedingt notwendig, wenn wir den Ängsten und Bedürfnissen der Menschen in unserem Land anders als mit „nachgeholfenem Frühableben“ begegnen wollen.

Fachverband SAPV Hessen e.V. -

Michaela Hach  -  Geschäftsführung

in freundlicher  Unterstützung von Herrn Dr. Ingmar Hornke und Frau Hanka Petereit -Vorstand